25. Juni 2020

Am 09. Juni 2004 explodierte in der Kölner Keupstraße eine Nagelbombe des NSU. Am Tag des rassistischen Anschlags saß Atilla Özer mit anderen Kunden bei dem Frisör, vor dessen Ladenlokal die Bombe detonierte. Zahlreiche Menschen, so auch Atilla, wurden bei dem Anschlag mitunter schwer verletzt. Bevor der Anschlag eindeutig dem NSU zugeordnet wurde, richtete sich der Verdacht der Ermittler*innen ausschließlich gegen die Bewohner*innen und Beschäftigten der belebten Geschäftsstraße. So wurden Opfer zu Tätern gemacht und die Betroffenen erfuhren weder gesellschaftliche Solidarität noch eine offizielle Unterstützung. Atilla Özer starb im Jahr 2017 an den Spätfolgen des Anschlags. Seither kämpft seine Witwe, Candan Özer, gemeinsam mit anderen Angehörigen, um die Anerkennung der Opfer rechter und rassistischer Gewalt.

Wie hast du, Candan, den Tag des Anschlags erlebt und was hat Atilla dir darüber erzählt?

An diesem besagten Tag war ich in Köln und habe nach meinem Feierabend nur mitbekommen, dass viele Leute gesagt haben, ‚Hast du gehört was in der Keupstraße passiert ist?‘. Ich hatte gegen 17:30 Uhr Feierabend und der Anschlag hatte sich bereits um 15:58 Uhr ereignet. Dann hat mich jemand angerufen und gefragt, ‚Du bist doch gerade in Köln, hast du das mit Atilla und seinem Freund gehört? Die waren bei dem Anschlag dabei‘. 2004 kannte ich Attila noch nicht persönlich. Wir hatten aber bereits einen gemeinsamen Freund. Da ich niemanden telefonisch erreichen konnte, bin ich mit Kollegen zur Keupstraße gefahren. Wir sind bis zur Absperrung gekommen und ich habe Atilla und unseren gemeinsamen Freund, mit dem er beim Frisör war, von Weitem gesehen. Es durfte aber keiner zu ihnen. Die Polizei hat eine Mauer gebildet und wenn jemand den Leuten hinter der Absperrung zugewinkt hat oder fragen wollte, wie es ihnen geht und was passiert ist, kam direkt die Polizei und es hieß, auf keinen Fall mit denen hinter der Absperrung sprechen, die sind noch nicht verhört worden.

Überall lagen Verletzte, lagen Glassplitter und Trümmer.

Es war ein einziges Chaos und der Tag war wie ein Film. So etwas Schreckliches hatte man noch nie erlebt. Ich habe aber erst Tage, Wochen, Jahre später realisiert, was ich da eigentlich gesehen habe. Überall lagen Verletzte, lagen Glassplitter und Trümmer. Überall waren unglaublich viele Polizeibeamte, mehr als Sanitäter, die mit Stift und Zettel in der Hand rumgelaufen sind, um Personalien aufzunehmen.

Gab es Informationen von den Personen vor Ort oder von der Polizei, was tatsächlich passiert ist?

Viele, die dabei standen haben gesagt, vielleicht war es ein Kabelbrand oder ein Kurzschluss. Die Worte Bombenanschlag oder Rassismus habe ich aber nicht gehört.

Was hat Attila über die Tage und Wochen nach dem Anschlag berichtet?

Ich habe Attila Ende 2007 persönlich kenngelernt. Das war drei Jahre nach dem Anschlag. Ich habe ihn als einen sehr sympathischen, ruhigen Mann kennengelernt, der nicht viel geredet hat. Er hatte seine eigene Security-Firma und hat regelmäßig Fußball gespielt. Er hat keine Medikamente genommen und keinen Alkohol getrunken. Die einzige schlechte Angewohnheit, die er hatte, war Zigaretten rauchen.

Für mich war es jedoch sehr traurig mitzuerleben, wie grinsend er von dem Anschlag erzählt hat. Wie er sich selber einen Zimmermannsnagel, der ihm im Kopf steckte, rausgezogen hat. Den Nagel hat er sich im Schock selber rausgezogen, weil jemand zu ihm sagte, du hast da was stecken. Und dass er über dieses Erlebnis drei Jahre später so locker erzählen konnte, hat mir gezeigt, dass er noch nicht realisiert haben konnte, was damals passiert war.

Was hat sich für Attila nach dem Anschlag verändert? In wie weit haben sich bei ihm posttraumatische Folgen bemerkbar gemacht?

Du musst dir das so vorstellen: Du bist ein junger Mann, der seine eigene Firma hat, du bist angesehen und plötzlich stehst du ohne Job da. Niemand will mehr mit deiner Firma zusammenarbeiten, da über dich schlecht in der Presse berichtet wurde. Du hast also kein Geld mehr, kein Ansehen und deine Freunde zweifeln plötzlich auch noch an deiner Glaubwürdigkeit. Das heißt, Atilla verlor zunehmend an Vertrauen. Er entwickelte Depressionen, weil er sich zunehmend nutzlos vorkam, weil er behandelt wurde wie ein Krimineller und weil ihm mehr und mehr negative Blicke zugeworfen wurden.

Die gegenseitigen Beschuldigungen waren wegen der ewigen Kreuzverhöre bei der Polizei. Die Leute wurden regelrecht von Innen gespalten.

Er hat das Vertrauen verloren, er hat angefangen an sich selber zu zweifeln, konnte sich nichts mehr leisten, hat mit Freunden Streit bekommen, weil sie sich irgendwann gegenseitig beschuldigt haben. Die gegenseitigen Beschuldigungen waren wegen der ewigen Kreuzverhöre bei der Polizei. Die Leute wurden regelrecht von Innen gespalten, in der Hoffnung, dass einer von den so genannten Migranten kommt und sagt, komm ich erzähl euch jetzt mal was da war. Ich weiß nicht, ob das bewusst oder unbewusst vollzogen wurde, dass man die Menschen zuerst psychisch kaputt gemacht hat. Man braucht wirklich kein Arzt zu sein, um zu verstehen, dass die Gesundheit eines Menschen unter solch einer Situation leidet. Er hat dann angefangen Beruhigungsmittel zu nehmen. Er konnte auch irgendwann nachts nicht mehr schlafen. Er bekam Druckkopfschmerzen. Er konnte auch nicht lange in einer Wohnung bleiben. Manchmal ist er mitten in der Nacht um den Block gelaufen. Er sagte immer, dass sein Kopf nicht aufhört zu filmen. Es fing immer mit dem Anschlag an und ging weiter mit den Verhören, den Freunden und seiner allgemeinen Lebenssituation. Er hat es immer so beschrieben als würde sein Kopf die ganze Zeit Achterbahn fahren und er kann nichts machen.

Hat er nach dem Anschlag psychologische Hilfe bekommen?

Nein! Die körperlichen Wunden waren nach einem Jahr geheilt und es blieben die Narben am Oberkörper, am Nacken, im Gesicht. Es waren tiefe Narben. Für Atilla war aber wichtiger – so wie ich ihn verstanden habe – dass er aufhören wollte diese starken Beruhigungsmittel zu nehmen. Die waren es, die ihn krank gemacht haben. Seine Organe haben darunter gelitten. Er hat ernsthafte Magenprobleme bekommen, ihm wurden Organe entfernt. Er hatte am Bauch unzählige OP-Narben und irgendwann hieß es, er hat Bauchspeicheldrüsen-Krebs. Und so habe ich ihn auch kennengelernt, mit Bauchspeicheldrüsen-Krebs. Die ersten zehn Monate unserer Beziehung war ich nur im Krankenhaus. Und es ist unglaublich, aber wir haben den Krebs gemeinsam besiegt.

Ende 2008 haben wir dann geheiratet und sind nach Hamburg gezogen, wo ich ursprünglich gelebt habe. Wir dachten, vielleicht ist es gut weg von Köln und der alten Umgebung zu kommen. 2010 kam dann unser Sohn zur Welt. Doch auch wenn er sich in Hamburg wie neugeboren gefühlt hat, so war es für ihn auch eine einsame Zeit. Er hatte in Hamburg nur mich und seinen Sohn.

Das war ein Trauma, das er nie überwinden konnte.

Die Folgen des Anschlags konnte er nie überwinden. Würdest du sagen er ist 2017 an den Spätfolgen des Anschlags gestorben?

Es sind definitiv Spätfolgen. Seine Lebensqualität ist nach dem Anschlag immer schlechter geworden. Ich habe ihn nur für eine ganz kurze Zeit super glücklich erlebt. Das war die erste Zeit, in der unser Sohn zur Welt gekommen ist. Da habe ich ihn wirklich lachen gesehen, seine Augen haben gelacht. In dieser Zeit hat er auch keine Medikamente genommen. Aber der Alltag holt dich irgendwann wieder ein. Du lebst an einem Ort, an dem du nicht aufgewachsen bist, wo deine Freunde und Familie nicht sind. Dann denkst du wieder, dass Freundschaften in Köln auch auseinander gegangen sind und dann denkst du auch wieder an den Anschlag. Das war ein Trauma, das er nie überwinden konnte. Das heißt, sein Traum einen Sohn bekommen zu haben, hat dann irgendwann nicht mehr gereicht glücklich zu sein. Er hat sehr lange gekämpft, um auf den Beinen zu stehen, aber er hat es irgendwann nicht mehr geschafft, seine Organe haben irgendwann nicht mehr mitgemacht.

Sein Tod liegt knapp drei Jahre zurück. Du kämpfst nebenbei für andere Sachen, du hast Forderungen. Kannst du mir von deinem Kampf erzählen?

Alles, was er nicht erreichen konnte, muss ich für ihn zu Ende führen. Ich muss ihm zeigen, du bist nicht ohne Grund krank geworden. Warum nimmt jemand Beruhigungsmittel? Warum nimmt jemand Schlafmittel? Das nimmt jemand, der vergessen möchte, der vielleicht mal wieder in Ruhe schlafen möchte. Deswegen fordere ich für Attila, dass er wie alle anderen Opfer anerkannt wird auch wenn er 14 Jahre nach dem Anschlag gestorben ist. Dieser Mann ist nach dem Anschlag schneller gealtert, er ist krank geworden und konnte seine Erlebnisse nicht verarbeiten. Es gab auch keine angemessenen, bezahlbaren Therapien und keine Therapeuten, die Rassismuserfahrungen therapieren können. Wenn es schon damals Hilfsangebote und Initiativen gegeben hätte, wenn die Perspektiven der Opfer ernsthaft wahrgenommen worden wären, dann wäre es vielleicht alles ein bisschen anders gelaufen. Warum ich so sehr kämpfe ist, weil er meine große Liebe ist und bleibt, er wird immer der Vater unseres Sohnes sein, ich möchte, dass dieser Mann nachträglich verstanden wird. Er hat 14 Jahre gekämpft, wurde allein gelassen und hat es dann nicht mehr geschafft.

Wie würde für dich ein würdiges Gedenken an ihn aussehen? Was würdest du dir wüschen?

Ich möchte, dass Atilla den nötigen Respekt als Opfer bekommt, dass sein Name öffentlich erwähnt wird und Bilder von ihm zu sehen sind. Ich möchte nicht, dass er durch mich in einer Zeile erscheint. Ich möchte nicht für ihn im Vordergrund stehen müssen. Mit oder ohne mich ist Attila ein Opfer der Keupstraße geworden und hat sein Leben dadurch verloren. Von den nachfolgenden Generationen wünsche ich mir mehr Empathie für die Betroffenen und dass sie sich für eine vorzeitige Öffnung der NSU-Akten einsetzen.

 

Notiz zum Interview:
Das Interview wurde im Rahmen der Ausstellung „Die Angehörigen“, von Jasper Kettner und İbrahim Arslan, geführt. Die Ausstellung wird im Rahmen unseres Projekts #Meinwanderungsland, in Kooperation mit dem Schauspiel Köln und dem bundesweiten Aktionsbündnis ‚NSU-Komplex Auflösen‘ noch bis zum 26.06.2020 online gezeigt: https://www.schauspiel.koeln/die-angehoerigen/
Das hier veröffentlichte Interview basiert auf einem ausführlicheren Interview, das zum Zweck der Veröffentlichung gekürzt und redaktionell bearbeitet wurde. Der hier veröffentlichte Text wurde von Candan Özer autorisiert.