30. Juli 2020

Am 07. Januar 2005 verbrannte Oury Jalloh – an Händen und Füßen gefesselt – in der Zelle Nr. 5 des Polizeireviers Dessau-Roßlau in Sachsen-Anhalt. Die Beamten behaupten, der in Sierra Leone geborene Mann habe sich selbst angezündet. Durch jahrelanges zivilgesellschaftliches Engagement wird offengelegt, dass es nur Mord gewesen sein kann. Im Interview erzählt Mouctar Bah vom Kampf um Aufklärung des Mordes an seinem Freund Oury Jalloh. Dieser Kampf ist auch ein Kampf gegen strukturellen Rassismus in Deutschland und für ein angemessenes Gedenken. Mouctar Bah ist Mitbegründer der „Break the SilenceInitiative in Gedenken an Oury Jalloh“. Die Initiative ist bundesweit und international mit Betroffenen-Initiativen vernetzt.

Bebero: Wie würdest du Oury Jalloh beschreiben? Was war er für ein Mensch?

Mouctar: Oury war ein bester Freund von mir. Er war sehr freundlich, hatte Kontakt zu Menschen aus allen möglichen Nationen, er war offen und sehr sportlich.

Bebero: Bis zu deinem 19. Lebensjahr hast du in Guinea gelebt, dann bist nach Deutschland gekommen. Ich habe in einem Interview gelesen, dass dein Eindruck vom deutschen Rechtsstaat und der deutschen Polizei damals ein anderer war als heute. Kannst du dein damaliges Verständnis beschreiben und sagen, wie es sich nach dem Tod von Oury Jalloh verändert hat?

Mouctar: Als ich noch in Afrika gelebt habe, war es immer mein Traum nach Deutschland zu kommen. Ich dachte – und so wurde es uns auch in den Medien vermittelt – in Deutschland herrscht Demokratie, alle Menschen sind gleich und Hautfarbe spielt keine große Rolle. Deshalb habe ich dafür gekämpft nach Deutschland zu kommen. Als ich hierher kam, war es auch zunächst so. Nach dem Tod von Oury Jalloh musste ich jedoch erleben wie das System wirklich funktioniert. In meinen schlimmsten Träumen konnte ich mir nicht vorstellten, dass eine solche Tat und ein solcher Umgang mit dieser in einem demokratisch regierten Land möglich sind.

Das was ich erlebt habe, war keine Demokratie.

Ich kann mich noch daran erinnern, ich saß an jedem Prozesstag im Gericht. Ich habe die Richter und Staatsanwälte angeschaut. Ich habe ihnen in die Augen geschaut. Ich habe ihre Worte gehört. Aber das was ich erlebt habe, war keine Demokratie. Da ist ein Mensch, der verbrannt ist, der verbrannt worden ist. Meine Gedanken waren: War es Mord und die Justiz, Politik oder wer auch immer versuchen es zu vertuschen? Diese ganzen Verbrechen, Hanau, NSU, Oury Jalloh und viele mehr, sind Teil eines Systems, das all diese Verbrechen vertuschen will. Ich muss fragen: Regieren uns jetzt die Faschisten? Herrschen jetzt Neonazis über uns? Diese Fragen stelle ich mir immer wieder.

Bebero: Damit sprichst du strukturellen Rassismus an, der unter anderem bis heute die Aufklärung des Falls behindert. Deshalb ist es vor allem auf das zivilgesellschaftliche Engagement von dir und eurer Initiative „Break the Silence – Initiative in Gedenken an Oury Jalloh“ zurückzuführen, dass der Fall in Deutschland im öffentlichen Bewusstsein verankert wurde und die Forderung, diesen Fall endgültig aufzuklären, nicht verstummt. Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang auch die Vernetzung mit anderen Bündnissen?

Mouctar: Nach Bekanntwerden der Tat waren wir nicht unbedingt politisch aktiv, sondern wir waren in erster Linie am Boden zerstört. Wir waren – bildlich gesprochen – wie Säuglinge, die erst langsam gelernt haben zu sitzen, dann zu krabbeln und zu laufen und schließlich zu stehen. Dies alles haben wir mit Hilfe anderer Organisationen und durch das Netzwerk gelernt. Die haben uns unterstützt. Ohne die Vernetzung mit anderen Initiativen wäre dieser Kampf für mich alleine unmöglich gewesen. Wir haben damals die Black Community in Deutschland kennengelernt. Wir haben The Voice und die ISD kennengelernt. Wir haben uns mit antirassistischen Initiativen und dem Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ zusammengeschlossen. Es motiviert und gibt Kraft, wenn du mit Betroffenen zusammensitzt und man gemeinsam weint und sich gegenseitig in die Herzen schauen kann. Aus diesen Gründen ist das Netzwerk ganz, ganz wichtig.

Bebero: Die Erinnerung an deinen Freund Oury Jalloh bedeutet kämpfen zu müssen. Kämpfen gegen das Vergessen, kämpfen gegen die rassistischen Strukturen in Deutschland und kämpfen um Aufklärung und Anerkennung des Falls. Bei dem Kampf geht es aber auch gleichzeitig immer um ein Gedenken. Wie kann aus deiner Sicht ein würdiges Gedenken an Oury Jalloh aussehen?

Mouctar: Ich hatte zwischenzeitlich das Vertrauen verloren und habe an das hiesige System nicht mehr geglaubt. […] Irgendwann bin ich aber wachgeworden und habe mir gesagt, pass auf, mach das nicht mit. Denn es ist wichtig auf die Straße zu gehen, Selbstvertrauen zu erlangen und zu versuchen sich weiter zu vernetzen. […] Ich habe zum Beispiel die Möglichkeit in Schulen zu gehen und vor Schülern zu berichten, dass Oury Jalloh kein Feuerzeug bei sich hatte und dass es keine DNA-Spuren auf dem Feuerzeug gab. Das ist bewiesen. Die Matratze, auf der er lag, die konnte nicht von alleine brennen. Ohne Brandbeschleuniger hätte diese Matratze nicht brennen können. Das sind alles Fakten. Und indem ich Tatsachen und Wissen an Menschen weitergebe, gedenke ich an Oury Jalloh. Das ist für mich Gedenken.

Bebero: Gedenken bedeutet somit auch die Menschen in diesem Land und, vor allem auch die jüngere Generation, wachzurütteln und zu zeigen: das war kein Einzelfall, es war Mord.

Mouctar: Ja, richtig. […] Und wenn wir Wissen produzieren, um es an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben, werden diese in Zukunft kritischer sein und gewisse Strukturen in diesem Land schneller hinterfragen als ich es gemacht habe.

Ich denke auch immer an die Angehörigen der Opfer und wie sehr sie betroffen sind. Ich habe mich oft mit ihnen zusammengesetzt oder wir haben uns bei Demos getroffen. Die Augen dieser Menschen können nicht mehr lachen. Wir können uns nur umarmen und trösten. Das ist Gedenken und nicht irgendwo Blumen oder Kerzen hinzustellen.

Hört auf damit, klärt erst mal den Fall, bevor ihr Blumen niederlegt.

Bebero: Würdest du sagen, dass eine würdige Form öffentlichen Gedenkens nicht stattfinden kann, solange der Fall nicht aufgeklärt ist? Solange nicht ernsthaft rassistische Strukturen in diesem Land bekämpft werden?

Mouctar: Richtig! Solange diese Fälle nicht vollständig aufgeklärt sind, kann man niemanden einladen, der selbst Teil des Systems ist, um irgendwo Blumen oder Kränze niederzulegen. […] Genau das passiert aber jedes Jahr in Dessau. Damals kamen Bürgermeister, Polizei, Innenministerium und Vertreter von allen möglichen Institutionen. […] Die sind zum Polizeirevier gekommen und haben dort Blumen abgelegt. Wir sind dann auch dort hingegangen und haben gefordert: Hört auf damit, klärt erst mal den Fall auf, bevor ihr Blumen niederlegt. Diese Handlungen verletzen uns nur noch mehr.

Bebero: Ihr organisiert jedes Jahr zusammen mit Freunden, der Familie und Community eine eigene Gedenkveranstaltung für Oury Jalloh in Dessau. Dies geschieht aber unter erschwerten Bedingungen, da es besagten Parallelakt gibt.

Mouctar: Genau! Sie haben versucht uns zu schikanieren, einzuschüchtern und zusammenzuschlagen.

Bebero: Wer hat das versucht?

Mouctar: Der Staat, das System, die Polizei. Wir haben damals gesagt, das war Mord. Die haben uns krankenhausreif geschlagen. Ich lag vier Tage im Krankenhaus. Ein Freund von mir, mit dem ich die Demos organisiert habe, musste jahrelang wiederholt vor Gericht erscheinen, weil bei der Demo symbolisch Feuerzeuge auf den Boden geworfen wurden. Auch ich musste mehrmals vor Gericht erscheinen. Dann sitzt du vor dem Richter und weißt ganz genau, dass er dich verurteilen wird. Mir kommen die Tränen, wenn ich daran denke.

„Ich hätte nie gedacht, dass so etwas in Deutschland passieren kann.

Bebero: Es muss enorm belastend sein wenn der Protest um Aufklärung auch noch kriminalisiert wird.

Mouctar: In meinen schlimmsten Träumen, habe ich das nicht für möglich gehalten. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas in Deutschland passieren kann. Nie, niemals, no, jamais. Ich habe gesehen, wie Frauen bei Demos von Polizeibeamten zusammengeschlagen wurden. Sie wurden an den Haaren gezogen, es wurde Pfefferspray gegen sie eingesetzt. Und das alles nur weil sie gesagt haben, „Oury Jalloh das war Mord“.

Bebero: Durch euren Kampf habt ihr aber auch viel erreicht. Es gibt jetzt viel mehr Öffentlichkeit und eigentlich kann niemand mehr leugnen, dass es Mord war. Kannst du etwas zum aktuellen Stand eurer Aktivitäten sagen? Was sind die nächsten Schritte?

Mouctar: Ich würde sagen, wir haben bewiesen, dass Oury Jalloh ermordet wurde. Er hatte kein Adrenalin in seinem Urin und kein Kohlenmonoxid in seinem Blut. Oury Jalloh konnte dieses Feuerzeug nicht benutzt haben, weil darauf keine DNA-Spuren von ihm waren. Letztendlich wurde für die Öffentlichkeit das ganze Geschehen aber so inszeniert, dass es aussah, als ob Oury Jalloh die Matratze selber angezündet hätte. Die Staatsanwaltschaft hat ein Brandgutachten erstellen lassen. Das sollte klären, ob es praktisch überhaupt möglich war, dass er die Matratze selber angezündet hat. Das Gutachten besagt, dass es für ihn unmöglich war. Daraufhin wurde eine Anzeige wegen Mordes gegen zwei Polizeibeamte erstattet und die Bundesstaatsanwaltschaft in Karlsruhe informiert. Diese nahm sich des Falls an, reichte ihn an eine andere Staatsanwaltschaft weiter, die wiederum das Verfahren eingestellt hat. Wir haben dann Widerspruch eingelegt, auch wenn wir insgeheim wussten, dass wir damit keinen Erfolg haben werden. Aber wie haben gesagt, wir machen weiter und das haben wir dann auch gemacht. Aktuell haben wir ein ärztliches Gutachten eingeholt, das belegt, Oury Jalloh war vor seinem Tod körperlich derart schwer verletzt, dass er in diesem Zustand handlungsunfähig war. Er hätte nicht handeln können, da er eigentlich bereits tot war. Ungeachtet dieser Gutachten stellte das Oberlandesgericht von Sachsen-Anhalt den Fall ein.

Bebero: Und jetzt ist die nächste Instanz der europäische Gerichtshof für Menschenrechte?

Mouctar: Nein, momentan sind wir mit dem Fall vor dem Verfassungsgericht. Dort haben wir erneut Widerspruch eingelegt. Du kannst nicht zum europäischen Gerichtshof gehen, solange in Deutschland nicht alle Instanzen durchlaufen sind.

„Es ist nicht nur Oury Jalloh, sondern es sind viele Menschen, die auch weiterhin Opfer von rassistischen Gewalttaten werden.

Bebero: Ich habe dich am Anfang gefragt, was Oury Jalloh für ein Mensch war. Ist er damals wie du mit einem durchweg positiven Bild vom deutschen Rechtsstaat hierher gekommen?

Mouctar: Ja, er hat sich immer gefreut, wenn im Fernsehen Bundestagsdebatten liefen und die Abgeordneten diskutierten. Dann hat er immer gesagt: Hey Mouctar, guck mal, so etwas würde in unserem Land nicht passieren. Und ich bin mir sicher, wenn er jetzt sehen könnte, was hinter diesem demokratischen System alles steckt, hätte er seinen Mund auch aufgemacht. Bedauerlich ist, es ist nicht nur Oury Jalloh, sondern es sind viele Menschen, die auch weiterhin Opfer von rassistischen Gewalttaten werden.

Bebero: Es sind keine Einzelfälle.

Mouctar: Ja, und es gibt auch nur wenige Menschen, die Zivilcourage zeigen.

Bebero: Was ist die Bedeutung der Community in diesem andauernden Kampf? Wie wichtig ist es geschützte Räume zu haben, um zu trauern, zu heilen und sich zu stärken. Ich denke dabei auch an afrodeutsche Jugendliche, die mit derartigen Geschichten konfrontiert werden und die ihnen verständlicherweise Angst machen.

Mouctar: Die Community tut viel. Ich bekam von Anfang an viel Unterstützung von Linken, Schwarzen Menschen in Deutschland, von Afrikanern. Da habe ich gesagt – wow. Ich stehe nicht alleine. Das hat mir mehr Courage und Motivation gegeben und ließ mich meine Angst überwinden. Wir sollten uns nicht unterschätzen, wir sind sehr, sehr, sehr stark! Wir haben immer viel gekämpft. Wir werden auch weiter kämpfen. Wenn du daran denkst, was uns alles angetan wurde während der Sklaverei, während der Kolonialzeit, bis wir uns letztendlich befreit haben. Es war ein langer Weg bis hierher. Und die rassistischen Verbrechen, die wir jetzt erleben, stehen in Kontinuität dieser rassistischen Strukturen, die mit Sklaverei und Kolonialismus verbunden sind. Deshalb kämpfen wir weiter.

Bebero: Möchtest du zum Abschluss gerne noch etwas sagen?

Mouctar: Ja, ich möchte an die Menschen erinnern, die in Deutschland rassistisch ermordet wurden. Ich denke jeden Tag an sie und unseren Kampf. Zudem haben wir eine unabhängige, internationale Kommission zusammengestellt, die sich unter anderem mit dem Fall Oury Jalloh beschäftigt. Wir würden uns sehr freuen, wenn sich Leute finden würden, die uns bei dieser Arbeit unterstützen. Wir sind dankbar für jede Form der Hilfe, da es noch viel zu tun gibt.

Bebero: Vielen Dank für deine wichtige Arbeit und deine Kraft.

Mouctar: Ich danke euch für die Möglichkeit mich zu äußern.

 

Notiz zum Interview:
Das Interview wurde im Rahmen der Ausstellung „Die Angehörigen“, von Jasper Kettner und İbrahim Arslan, geführt. Die Ausstellung wurde im Rahmen unseres Projekts #Meinwanderungsland, in Kooperation mit dem Schauspiel Köln und dem bundesweiten Aktionsbündnis ‚NSU-Komplex Auflösen‘ vom 29.05. bis zum 26.06.2020 online gezeigt: https://www.schauspiel.koeln/die-angehoerigen/
Das hier veröffentlichte Interview basiert auf einem ausführlicheren Interview, das zum Zweck der Veröffentlichung gekürzt und redaktionell bearbeitet wurde. Der hier veröffentlichte Text wurde von Mouctar Bah autorisiert.