Was ist Religion und was Tradition – und kann man das überhaupt trennen? Ich würde zum Beispiel meine Familie nicht wirklich als religiös bezeichnen, aber auf jeden Fall als traditionsbewusst. Vor allem, wenn es ums Essen geht. Zum Beispiel um puderzuckerverklebte Hände und Marmelade-Münder an Chanukka, wenn es Sufganiyot (aka Berliner) gibt. Und ein paar Tage später um den Weihnachts-Schweinebraten bei meiner Oma. Nicht zu vergessen ihre legendäre Zitronencreme, für die manche Familienmitglieder alles tun würden.

An Pessach gibt’s dann den Seder-Teller, dessen symbolischen Belag mein Vater (geboren in Israel) gefühlt jedes Jahr seiner Schwiegermutter, also meiner Oma (geboren in Danzig), neu erklären muss. Es ist halt schwierig, sich zu merken, was bittere Kräuter, harte Eier oder Mazzot – das ziemlich geschmacklose Knäckebrot – mit der Flucht der jüdischen Sklaven aus Ägypten zu tun haben. Wenig später dürfen die Kinder meiner Geschwister dann glücklicherweise losrennen, um Schoko-Ostereier zu finden.

Früher hat es sich manchmal komisch angefühlt, parallel zu Weihnachten und Ostern immer noch was anderes zu feiern als die anderen Kinder in meiner Schule. Aber irgendwann trat ein anderes Gefühl an diese Stelle: Stolz. Auf meinen Vater, der uns wenigstens ein Stück jüdische Kultur mit auf den Weg gegeben hat, in diesem Land und dieser Familie, für die er vor 40 Jahren seine Heimat verlassen hat. Und darauf, dass unsere israelisch-deutsch-türkisch-spanisch-kroatisch-mexikanische Sippe eine Vielzahl von Traditionen fortführt, neue erfindet und zeigt, wie katastrophal chaotisch, wunderschön und bereichernd Migration sein kann – wenn man sie lässt.

Eingereicht von Rachel aus Köln, Oktober 2020