Mein Wanderungsland

Doğan Akhanlı

Ich wusste wenig über die deutsche Vergangenheit. Als ich nach Deutschland kam, ereigneten sich die rassistischen Übergriffe in der Stadt Hoyerswerda. Ein Wohnheim für Vertragsarbeiter sowie ein Flüchtlingswohnheim wurden angegriffen. Bis zu 500 Personen standen vor den Heimen und beteiligten sich an den Angriffen. Wenige Monate später, im Sommer 1992, wiederholten sich diese rassistischen Angriffe. Und zwar in Rostock-Lichtenhagen. Mehrere hundert rechtsextreme Randalierer beteiligten sich an den Gewalttätigkeiten und behinderten zusammen mit tausend Zuschauern, die die Täter beklatschten, den Einsatz von Polizei und Feuerwehr.

Wieder einige Monate später, am 9. November 1992, versammelten sich 100.000 Menschen auf dem Chlodwigplatz in Köln. Mitglieder der Kölner Musikszene hatten zu einem Konzert „gegen Rassismus und Neonazis“ aufgerufen. Ich war auch dabei, und diese Kundgebung hatte mich hoffen lassen, die Gesellschaft sei in der Lage, die rassistische Gewalt zu stoppen. Doch zwei Wochen später geschah der Brandanschlag in Mölln. In einem Asylbewerberheim zu leben, das war damals nur schwer zu ertragen, weil wir Asylbewerber uns darin auch nach der Flucht nicht in Sicherheit wussten. Flüchtling in Deutschland zu sein, das war damals wie heute ein schwieriger Zustand. Ständig sagte man uns, wir sollten besser nirgendwo sagen, dass wir Flüchtlinge seien. Anfang 1993 konnten wir dann in eine Wohngemeinschaft ziehen, weil unsere zukünftigen Mitbewohner*innen sich entschlossen hatten, eine Asylbewerberfamilie bei sich aufzunehmen.

Am 29. Mai 1993 starben fünf Menschen bei einem Brandanschlag in Solingen. Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç, Saime Genç kamen ums Leben. Ein sechs Monate alter Säugling, ein dreijähriges Kind und der 15 Jahre alte Bekir Genç wurden mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus gebracht. Bekir Genç erlitt schwerste Verbrennungen und unterzog sich seit dem Anschlag insgesamt 30 Operationen und Hauttransplantationen. 14 weitere Familienmitglieder erlitten zum Teil lebensgefährliche Verletzungen.

Der mörderische Brandanschlag von Solingen wurde zu einem Wendepunkt für viele Deutsch-Türken. Auch für uns neu Dazugekommene. Eine Nachbarin hatte ich nach dem Brandanschlag in Solingen auf der Straße getroffen und ihr von meinen Ängsten erzählt. “Vielleicht bin ich”, hatte ich gesagt, “ins falsche Land gekommen, vielleicht wäre es besser, unsere Siebensachen zu packen und wegzugehen.” Ich erinnere mich, dass sie mich resolut am Arm gepackt hatte. “Wenn hier jemand weg muss”, hatte sie gesagt, “dann sind es die brandschatzenden Mörder. Ihr bleibt, wo ihr seid!”

Wir erhielten weiter in dieser Wohngemeinschaft einen Schutzraum. Und wenig später wurden unsere Asylanträge anerkannt. Mit gesichertem Bleiberecht, mit politischer und persönlicher, auch mit kollegialer Unterstützung war es mir möglich geworden, ein unabhängiges Leben aufzubauen, meine Projekte durchzuführen und meine schriftstellerische Tätigkeit aufzunehmen. Obwohl mir bewusst war, dass meine Familie und ich jederzeit Opfer rassistischer Gewalttaten werden konnten, hatte ich nicht mehr die Angst. Die Solidarität, die wir als Familie erlebten, hat meine Beziehung zu unserem Zufluchtsland Deutschland positiv geprägt.
Ich habe auch den Umgang mit der eigenen Geschichte in Deutschland mit Begeisterung wahrgenommen. Endlich konnte ich die Verbindungen zwischen historischer und aktueller Gewaltgeschichte meines Herkunftslands herstellen und aufarbeiten. Ich konnte langsam verstehen, was meine Gewalterfahrungen mit der der Armenier*innen vor 100 Jahren zu tun hatte. Ich spürte einen Zusammenhang, eine Verbindung zwischen mir und der Verfolgung der Armenier*innen. Um diese Verbindungen und Gemeinsamkeiten besser zu verstehen, studierte ich die Literatur über den Holocaust und richtete mein Interesse auf die gewaltvolle deutsche Geschichte.

Dass der Holocaust nicht nur eine deutsche, sondern eine transnationale Geschichte ist, eine Geschichte, die viele Länder betraf, lag mir dabei besonders am Herzen. Ich habe an Studienreisen teilgenommen, Gedenkstätten besucht und schließlich kam ich nach Auschwitz. Die Konfrontation und Auseinandersetzung mit diesem Ort, dem Sinnbild der Shoah, ließen meine eigenen Erfahrungen von Verfolgung und Folter, die ich in der Türkei erlitten hatte, in einer anderen Perspektive erscheinen. Die von mir erlebten Gewalterfahrungen relativierten sich angesichts des Leidens in Auschwitz.

Der Blick der Holocaust-Überlebenden, wie sie über Deutschland reden, wie sie die Bemühungen der Deutschen ernst nehmen, ermutigte mich sehr. Ich dachte, die Aufarbeitung in Deutschland betrifft nicht nur eine engagierte kleine Gruppe, sondern ist auch ein gesellschaftliches Phänomen. Ich dachte, mit den Erinnerungslandschaften in Deutschland kann ich mich sehr gut identifizieren. Ich dachte und glaubte, dass Deutschland eines der sichersten Länder für Einwander*innen und Minderheiten im Vergleich zu anderen Ländern geworden ist.

Bis zur Selbstenttarnung des NSU habe ich immer wieder die These vertreten, dass Deutschland ein besonderes Land ist, in dem es keinen Platz für Rassisten und Nationalisten gibt, weil das Land seine eigene Geschichte sehr ernsthaft aufgearbeitet hat. Dem NSU ist es doch gelungen, vielen Einwander*innen das Gefühl zu vermitteln, sie seien in diesem Land nicht sicher. Mit dem Versagen des Staates bei der Verfolgung der Täter*innen ist dieses Gefühl leider nicht abgeklungen. Das Wort „Versagen“ ist mit Bezug des NSU-Prozesses ein banales Wort geworden. Die Sicherheitsbehörden haben nicht nur versagt, sie müssen auch teils als Dulder und Mittäter betrachtet werden.

„Der NSU ist kein Einzelphänomen“, analysierte das NSU-Tribunal „er ist Teil einer Geschichte des Rassismus in Deutschland. Sie besitzt eine Kontinuität in den zahllosen Opfern rassistischer Gewalt der letzten Jahre und Jahrzehnte. Die Geschichte geht auch heute weiter mit brennenden Flüchtlingsunterkünften, mit täglichen Angriffen und Ausgrenzungen von eingesessenen Migrant*innen, Refugees, Schwarzen und Romnija.“

Wir dürfen aber nicht in Ohnmacht verfallen. Wir müssen für die Erinnerungslandschaft in Deutschland kämpfen. Wir müssen einem transnationalen Erinnerungsraum schaffen. Wir müssen Deutschlands Aufarbeitung der eigenen Geschichte mit der Aufarbeitung den überdimensionalen Geschichten der 20. Jahrhunderts vertiefen. Die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, des Jahrhunderts der Völkermorde, sollte Teil der Holocaust Education sein, und die Beschäftigung damit sollte aus dem nationalen Rahmen in einen transnationalen übertragen werden. Auschwitz verwandelte den Versuch, weiterhin Gedichte zu schreiben, zwar in Barbarei (Adorno), aber der einzige Weg, die Existenz von Auschwitz zu ertragen und sich zur Wehr zu setzten, besteht darin, trotz Auschwitz Gedichte zu schreiben.

 

Eingereicht von Doğan Akhanlı via www.meinwanderungsland.de