18. Juni 2020

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Am 23. November 1992 in der Nacht warfen Neonazis Brandsätze in ein Wohnhaus in der Ratzeburger Straße 13 in Mölln, in dem sechs Familien aus der Türkei lebten. Die Bewohner*innen wurden zum Teil schwer verletzt. In derselben Nacht zündeten die Täter das Haus der Familie Arslan in der Mühlen-straße 9 an. Bei diesem zweiten rassistischen Brandanschlag in Mölln starben Bahide Arslan (54), Ayşe Yılmaz (13) und Yeliz Arslan (10). Zahlreiche weitere Familienmitglieder verletzten sich zum Teil sehr schwer. İbrahim Arslan war damals sieben Jahre alt. Er konnte den rassistischen Brandanschlag nur überleben, weil seine Oma ihn in nasse Tücher gewickelt hatte. İbrahim Arslan engagiert sich seit Jahren in antirassistischen Projekten, vor allem in Schulen, um die Perspektive der Betroffenen hervorzuheben. Gemeinsam mit weiteren Opfern rassistischer Gewalt, Hinterbliebenenfamilien und Initiativen kämpft er gegen das Vergessen und für eine würdige Gedenkkultur in Deutschland.

Bengü: Kurz nach den rassistischen Brandanschlägen in Mölln gab es viele Demonstrationen. In Hamburg gab es eine große Trauerdemonstration im Zuge der Überführung der Verstorbenen in die Türkei. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl ist auf keiner dieser Veranstaltungen erschienen, mit einer bestimmten Begründung. Was denkst du darüber?

İbrahim: In der Zeit wurden nicht nur in Hamburg, sondern in ganz Deutschland Demonstrationen organisiert. Eine der größten Demonstrationen war in Hamburg, mit über 10.000 Menschen, als die Särge der Toten von Mölln in die Türkei überführt wurden. Helmut Kohl hat tatsächlich in der Zeit den Spruch gebracht, dass er nicht nach Mölln fahren werde, weil er dem „Beileidstourismus“ nicht beitreten möchte. Er hat das Thema niedergeschmettert, niedergeredet, in dem er sagte: ‚Ich solidarisiere mich nicht mit den Migrant*innen, mit den Opfern und veranstalte Beileidstourismus‘. Das ist ein extrem rassistischer Umgang mit dem Geschehenen.

Bengü: Was ist das für ein Zeichen an die Gesellschaft?

İbrahim: Es ist definitiv ein Zeichen – an die migrantische Community sowie an die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Auf der einen Seite gibt es keinerlei Interesse, Rassismus zu thematisieren, auf der anderen Seite wird deutlich, dass das Leben dieser Menschen unwichtig ist. Also das sind Menschen zweiter, dritter Klasse; es ist sowas von egal, dass sie gestorben sind, ich werde nicht dahinfahren, um mein Beileid auszusprechen. Das ist extrem rassistisch und es ist überhaupt nicht tragbar, wenn das ein Bundeskanzler sagt. Helmut Kohl ist ja als Held gestorben.

Die Gesellschaft hat keinerlei Hemmungen gehabt eine Opfer-Täter-Umkehr zu machen und mit unserem Leid zu spielen.

Bengü: Ihr seid nach einigen Jahren aus Mölln weggezogen. Was ist in der Zwischenzeit passiert?

İbrahim: Auch wenn es unglaubwürdig ist, wir haben uns nicht nur als Schandflecken gefühlt, wir wurden als Schandflecken abgestempelt, weil wir jahrelang noch von ganz vielen Menschen in Mölln schikaniert wurden. Es wurde zum Beispiel das Gerücht in die Welt gesetzt, dass wir selbst unser Haus angezündet haben – ähnliche Zustände wie beim NSU, dass wir als Täter abgestempelt wurden. Die Gesellschaft hat keinerlei Hemmungen gehabt eine Opfer-Täter-Umkehr zu machen und mit unserem Leid zu spielen. Leider ist es so, dass nach so vielen Jahren die Stadt Mölln damit nicht abschließen kann, dass wir die Opfer sind und nicht sie. Sie sehen sich immer noch als Opfer.

Bengü: Die Stadt Mölln fühlt sich also betroffener als die Familie selbst?

İbrahim: Es ist skurril, es sind nicht nur die Menschen, die dort leben, nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Institutionen selber, die dort agieren und regieren. Sie sehen sich als Opfer des Brandanschlags.

Bengü: Wie wird an Mölln 1992 gedacht?

İbrahim: Das ist Wahnsinn. Es gibt in Mölln seitdem eine Gedenkveranstaltung, allerdings werden wir nur als Gäste zu dieser Veranstaltung eingeladen. Wir haben wenig Möglichkeiten sie mit zu organisieren, unsere Forderungen nach Straßen- oder Platzumbenennungen werden immer wieder aberkannt. In Mölln gab es eine „Möllner Rede“, die jedes Jahr stattfand. Sie wurde aus dem offiziellen Programm rausgestrichen, weil wir als Familie die Redner*innen ausgesucht haben. Aus diesem Grund ist die „Möllner Rede“ jetzt nicht mehr in Mölln, sondern im Exil. Es gibt jedes Jahr zwei Gedenkveranstaltungen. Unsere und die der staatlichen Institutionen. Das ist ein beschämendes Bild, weil immer noch nicht akzeptiert wird, dass die Herrschaft des Gedenkens den Betroffenen gehört. Ganz viele Betroffene rassistischer Gewalt erleben das Gleiche, was wir erlebt haben und versuchen ihre Erinnerung zurück zu erkämpfen, was eigentlich ihnen gehört.

Somit haben wir die Gedenkkultur in Deutschland in Frage gestellt.

Bengü: Das heißt, es finden jährlich zwei unterschiedliche Gedenkveranstaltungen statt, um an die Opfer des rassistischen Brandanschlags zu erinnern. Einmal die „offizielle“ Veranstaltung der Stadt Mölln und einmal die „Möllner Rede im Exil“. Kannst du mehr über die „Möllner Rede im Exil“ berichten?

İbrahim: Die „Möllner Rede“ wurde von der Stadt Mölln ins Leben gerufen. Das war ein Appell an die Gesellschaft, um Rassismus zu thematisieren. Es war ein ganz wichtiges Instrument. Wir haben versucht die Redner*innen zu organisieren, bis 2012. 2012 hielt Beate Klarsfeld die „Möllner Rede“. Anschließend entschied die Stadt Mölln, die „Möllner Rede“ sei zu politisch und nahm sie aus dem offiziellen Programm raus. Die Gelegenheit haben wir ausgenutzt. Wir wollten erst in der Nähe von Mölln bleiben, in Ratzeburg, Hamburg oder Lübeck. Es ist mittlerweile so, dass die „Möllner Rede im Exil“ bundesweit stattfindet, in Köln, Frankfurt, Hamburg, Lüneburg etc. Wir haben dadurch ein Politikum eröffnet, in dem wir gesagt haben, ‚welche Gedenkveranstaltung ist authentisch? Wenn sie eine Institution macht, ohne die Betroffenen einzubeziehen oder die Betroffenen selbst, die Hauptzeugen des Geschehenen?‘ Somit haben wir die Gedenkkultur in Deutschland in Frage gestellt. Nicht nur mit der „Möllner Rede im Exil“, sondern mit unserer Parallelveranstaltung am Gedenktag. Wenn wir eine Mahnwache halten und die Stadt Mölln ihr eigenes Programm durchzieht, eröffnen wir dadurch neue Perspektiven für Menschen, die von rassistischen Gewalttaten betroffen sind. Damit zeigen wir, dass rein solidarische Menschen ausreichen, um eine vernünftige, respektvolle sowie eine authentische Gedenkveranstaltung zu organisieren.

Bengü: Du hast gerade gesagt, dass viele Städte damit Probleme haben, im Umgang mit Gedenken an Opfer rassistischer Anschläge, rassistischer Morde. Mölln ist da sicher kein Einzelfall. Eberswalde, Lübeck, Saarlouis, Duisburg, Köln – es sind viele Städte, die Probleme haben Verantwortung zu übernehmen, vor allem wenn es darum geht, gemeinsam mit Betroffenen Gedenken auf Augenhöhe zu veranstalten. Was meinst du woran das liegt? Wie kann ein angemessenes Gedenken an Opfer rassistischer Gewalt aussehen?

İbrahim: In erster Linie liegt es daran, dass in ganz vielen hohen Hierarchieebenen weiße Deutsche sitzen. Das ist leider so. Empathie zu erwarten, von Menschen, die nie Rassismuserfahrungen machen, ist natürlich utopisch. Es muss nicht unbedingt ein Haus angezündet werden, um Rassismuserfahrungen zu machen, Alltagsrassismus sagt ja auch schon viel aus. An diesen Punkten ist es klar definiert, wer die Expert*innen sind. Es sind die Menschen, die selbst von Rassismus betroffen sind. Da fängt das Problem grundsätzlich an. Dann möchte man keine Eingeständnisse machen, sich mit seinem eigenen Rassismus konfrontieren. Wenn eine Institution die Herrschaft abgibt, wenn eine Institution die komplette Organisation an Rassismusbetroffene abgibt, dann wird auch institutioneller Rassismus thematisiert. Dann wiederum setzt man einen Spiegel vor Institutionen, Politiker*innen, Organisator*innen, die Rassismus ausüben. Es ist viel gemütlicher die Macht zu behalten, dann lassen sich bestimmte Themen unter den Teppich kehren, gar nicht erst ansprechen, da man keine Angriffsfläche geben möchte. Man versucht sich solidarisch zu zeigen, dabei ist es keine Solidarität, sondern eine Vereinnahmung des Gedenkens, welches den Betroffenen gehört.

Wir registrieren heute noch mehr rassistisch motivierte Anschläge, Morde als in den 1990ern.

Bengü: Welche gesellschaftliche Relevanz hat Gedenken an Opfer rassistischer Gewalt?

İbrahim: Erinnern ist die reinste Form des Gedenkens. Wenn man sich an Menschen erinnert, die ermordet worden sind, die nicht mehr leben, dann holt man diese Menschen visuell wieder hervor. Man setzt sich mit der Thematik auseinander. Das ist ein extrem wichtiges Instrument für Betroffene, um die Symptome zu verarbeiten, um die Krankheiten zu heilen. Aber auch um die Geschichte zu verarbeiten, sei es auch nur an einem Tag. Deswegen ist Gedenkpolitik für Betroffene ein extrem wichtiges Instrument, was aber leider noch nicht ihnen gehört. Die Institutionen müssen noch davon überzeugt werden, dass das Gedenken rein den Betroffenen gehört.

Bengü: Warum ist es heute noch wichtig an die Morde von Hamburg, an die Anschläge von Duisburg, Mölln, Lübeck oder Rostock zu erinnern? Warum ist es heute noch wichtig an Ereignisse zu erinnern, die teilweise vor Jahrzehnten passiert sind?

İbrahim: Man darf nicht mit der Vergangenheit abschließen. Das wäre ein großer, fataler Fehler. Die Vergangenheit würde sich dann wiederholen. Das passiert auch, die Vergangenheit wiederholt sich immer wieder. Wir registrieren heute noch mehr rassistisch motivierte Anschläge, Morde als in den 1990ern beispielsweise. Die Gesellschaft ist keine antirassistische, antifaschistische Gesellschaft. Im Gegenteil, Rassismus und Faschismus ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Wenn wir die Geschehnisse aus der Vergangenheit nicht hervorholen, um die Gesellschaft zu informieren, dass Rassismus Leben zerstört, Familien auslöscht, eine ganze Generation auslöscht, ein ganzes Volk auslöscht – wie im Holocaust – dann wiederholt sich die Geschichte. Die Gesellschaft und die Heranwachsenden werden nichts daraus lernen, weil sie Rassismus verharmlosen. Rassismus nimmt Leben, das ist ganz wichtig zu erwähnen. Rassismus tötet und das müssen wir thematisieren.

Bengü: Du hast gerade die Heranwachsenden erwähnt. Welche Rolle spielt die Bildung?

İbrahim: Die Bildung spielt eigentlich die größte Rolle. Die Leute die Häuser anzünden, Hass verbreiten waren auch mal Kinder, haben in ihren Familien, ihrer Schulzeit, in ihrer Umgebung rassistische Tendenzen aufgenommen. Diesen rassistischen Tendenzen können wir nur entgegentreten, wenn wir vernünftige Bildungsarbeit machen, ein richtig gutes antifaschistisches Bildungssystem aufbauen. Das ist definitiv noch nicht erreicht, es ist ein Tropfen auf dem heißen Stein, was in den Schulen angeboten wird. Der Rassismus ist nicht im Nationalsozialismus entstanden und ist dort untergegangen, sondern hatte dort seinen Höhepunkt und jetzt geht es weiter.

Wir setzen uns immer noch mit Täter*innen auseinander, anstatt mit Opfern und Überlebenden.

Bengü: Serpil Temiz, die Mutter des am 19. Februar 2020 in Hanau ermordeten Ferhat Unvar, forderte in ihrem offenen Brief an die Bundeskanzlerin Merkel: „Die Opfer von Hanau dürfen nie vergessen werden. Ihre Namen müssen in der Schule gelernt werden und auf den Straßen lesbar sein.“ Teilst du ihre Meinung?

İbrahim: Dass wir uns mit den Opfern und Betroffenen der rassistischen Morde auseinandersetzen ist eine berechtigte Forderung, die eigentlich eine Selbstverständlichkeit für eine solidarische Gesellschaft sein sollte. Wir setzen uns immer noch mit Täter*innen auseinander, anstatt mit Opfern und Überlebenden. Aus diesem Grund würde ich ihre Forderung glatt unterschreiben. Ich würde sogar weitergehen und die Nicht-Thematisierung in der Gesamtgesellschaft als ein Fehler bezeichnen. Das muss sich ändern.

Bengü: Gehst du deshalb oft in die Schulen? Was genau machst du dort?

İbrahim: Ganz wichtig zu erwähnen ist, dass ich das ehrenamtlich mache. Es wird Opfern und Überlebenden nicht zugestanden, dass sie in Schulen arbeiten oder pädagogische Arbeit machen. Auch das müssen Betroffene sich erst erkämpfen. Die reine Lebenserfahrung reicht leider nicht aus, uns fehlen die nötigen Zertifikate. Ich habe einen Film, den ich zeige und das Format eines Zeitzeugengesprächs mit einer PowerPoint-Präsentation. Ich versuche den Schüler*innen die Opferperspektive nahe zu bringen. Die Namen der Täter*innen zu nennen vermeide ich. Ich zeige keine Bilder von Taten, sondern nur von Opfern und Überlebenden sowie deren Angehörigen. Ich arbeite mit deren Forderungen und Wünschen. Die Resonanz und der Bedarf sind riesengroß, weil die Schüler*innen ganz neue Perspektiven kennenlernen. Sie merken tatsächlich, dass im deutschen Bildungssystem, aber auch im Alltag die gesamte Thematik der Betroffenen gar nicht existiert. Also die Betroffenen existieren demnach in unserer Gesellschaft nicht, nur die Täter*innen. Das versuche ich in den drei Stunden komplett auszublenden, in dem ich die Opfer hervorhebe. Das finden die Schüler*innen hervorragend.

Alles, was zum Thema Gedenkpolitik geschieht, ist den Betroffenen, den Opferfamilien und deren Helfer*innen zuzuschreiben und nicht den staatlichen Institutionen.

Bengü: Es gibt Gedenkveranstaltungen, es gibt Gedenksteine, es gibt Orte des Erinnerns. Welche Formen des Gedenkens kann es deiner Meinung nach sonst geben? Wem gehört das Gedenken?

İbrahim: Es gibt Gedenkorte, Gedenksteine, Gedenkstraßen… Die Frage ist, wie diese entstehen. Wurden sie in Kooperation mit den Betroffenen verwirklicht, oder von einer Institution durchgeführt, ohne sie einzubeziehen. Unsensibilität! Es wird versucht Solidarität zu demonstrieren, indem ein Straßenname an einem Industriegebiet geklatscht wird. Der Ort wird meist von dem Tatort getrennt. Das sind Fragen die gestellt werden müssen, wenn wir über Gedenkorte sprechen. Das andere ist, diese Gedenkorte, Gedenksteine, Opferentschädigungsgelder, Gesetze oder Theaterstücke entstehen nur, weil es den Kampf der Betroffenen darum gibt. Es gibt Betroffene, die darum kämpfen, Betroffene, die das einfordern, es gibt Initiativen und solidarische Menschen, die das einfordern. Aus dem Grund entstehen solche Projekte überhaupt. Geschichte wird gerne unter den Teppich gekehrt. Alles, was zum Thema Gedenkpolitik geschieht, ist den Betroffenen, den Opferfamilien und deren Helfer*innen zuzuschreiben und nicht den staatlichen Institutionen.

Welche Art von Gedenken es geben kann, muss jeder Betroffene individuell entscheiden und die Herrschaft über die Entscheidung muss den Betroffenen überlassen werden. Sie entscheiden darüber, wie und wo gedacht wird. Wenn zum Beispiel an einem Gedenkort eine deutsche Eiche gepflanzt wird, dann frage ich mich, aus welcher Ideologie diese Idee entsteht.

Ich möchte die Gesamtgesellschaft auffordern, solidarisch zu sein, Projekte zur Gedenkkultur zu entwickeln, aber bitte in Zusammenarbeit mit den Betroffenen. Das ist eine ganz große Wertschätzung für die Betroffenen.

Notiz zum Interview:
Das Interview wurde im Rahmen der Ausstellung „Die Angehörigen“, von Jasper Kettner und İbrahim Arslan, geführt. Die Ausstellung wird im Rahmen unseres Projekts #Meinwanderungsland, in Kooperation mit dem Schauspiel Köln und dem bundesweiten Aktionsbündnis ‚NSU-Komplex Auflösen‘ noch bis zum 26.06.2020 online gezeigt: https://www.schauspiel.koeln/die-angehoerigen/
Das hier veröffentlichte Interview basiert auf einem ausführlicheren Interview, das zum Zweck der Veröffentlichung gekürzt und redaktionell bearbeitet wurde. Der hier veröffentlichte Text wurde von İbrahim Arslan autorisiert.